/ M - Merkur.de : »Missbrauch im Heim: Stadt bietet Opfern Hilfe an« - Aktualisiert: 31.03.2011 - 08:55 Uhr @ www.merkur.de/lokales/muenchen/stadt-muenchen/missbrauch-heim-stadt-bietet-opfern-hilfe-1183923.html
München - München wendet sich in einer Briefaktion an alle ehemaligen Heimkinder, die in städtischen Einrichtungen untergebracht waren. Wie die Stadt möglichen Missbrauchsopfern helfen möchte:
Als Leiterin des Stadtjugendamtes München möchte ich mich unmittelbar an Sie, die ehemaligen Kinder und Jugendlichen eines Münchner Heimes in der Zeit von 1950 bis ca. 1975, wenden. So beginnt ein Schreiben, das Maria Kurz-Adam bereits mehr als 600 Mal verschickt hat - an all jene der 3169 Ex-Heimkinder, deren Adresse bisher ausgemacht werden konnte. 65 haben bisher geantwortet und Geschichten erzählt, die auch die erfahrene Psychologin Kurz-Adam nicht so schnell vergessen wird. Ich hab die alle im Kopf, sagt sie leise.
Als die Vergangenheit deutscher Kinderheime Anfang 2008 bundesweit in die Schlagzeilen geriet und ein Runder Tisch [Heimerziehung] in Berlin Fälle von psychischer und physischer Misshandlung ans Licht brachte, wandte sich auch eine Handvoll früherer Opfer an die Stadt [München]. Für Kurz-Adam ein zwingender Anlass, die Geschichte der drei alten städtischen Heime genauer unter die Lupe zu nehmen: Das Münchner Waisenhaus, das Münchner-Kindl-Heim und das Marie-Mattfeld-Haus (früher als Hänsel-und-Gretel-Heim bekannt) in Oberammergau. Die Aktenbestände wurden von einem Wissenschaftler stichprobenartig untersucht. Seine Erkenntnisse wurden nun durch die Brief-Aktion bestätigt. Alles, was der Runde Tisch [Heimerziehung] herausgefunden hat, so Kurz-Adam, sei auch in den städtischen Heimen geschehen: Kinder wurden gezwungen, Erbrochenes zu essen, sie wurden geschlagen, verprügelt, sexuell missbraucht. Es gibt Berichte über Suizide von Kindern, die daran zerbrochen sind.
An den Folgen der Übergriffe leiden manche Opfer bis heute. So etwas ist vielleicht mal erledigt, aber nie abgeschlossen, sagt Kurz-Adam. Deshalb bietet sie in dem Brief an, weiterführende Beratungsangebote zu vermitteln. Auch Akteneinsicht gewährt das Jugendamt den Ex-Heimkindern - auf Wunsch fachkundig begleitet, denn da stehen Dinge drin, die muss man erst mal verarbeiten. Dennoch könne der Einblick in die eigene Lebensgeschichte befreiend wirken: Man gewinnt ein Stück Kontrolle über dieses Leben zurück. Das hilft, sagt die Psychologin.
Kurz-Adam will keine falschen Eindrücke vermitteln: Gewalt und Misshandlung seien die Ausnahme gewesen. Von den Rückmeldungen sei die Mehrheit positiv. Nur jede vierte Zuschrift handle von Gewalterfahrungen. Doch jeder einzelne Fall verdiene Beachtung, sagt die Jugendamts-Chefin - dankbar, dass sie in dieser Haltung sowohl von der Stadtspitze als auch von den Heimen unterstützt werde. Strafrechtlich sei zwar alles schon verjährt, aber wir prüfen die Frage der Entschuldigung und Entschädigung durch die Stadt. Sie will dieses Thema auch in den Stadtrat einbringen.
Besonders wichtig ist es Kurz-Adam dabei, aus den erschütternden Geschichten Lehren zu ziehen. Die Heimkinder, die sich gemeldet haben, stellen das in den Vordergrund: Sie erzählen ihre Geschichte, damit sich so etwas nicht wiederholen kann.
Was das angeht, sieht Kurz-Adam die Jugendfürsorge auf einem guten Weg: Besser geschultes Personal, kleinere Gruppen und ein Umfeld, das nicht wegsieht, geben den Heimkindern Schutz. Auch die Kinder fühlten sich nicht mehr wie ihre Vorgänger als die gesellschaftlich Letzten, so Kurz-Adam. Helfen könne ihnen am besten eine Jugendhilfe, die sich ihrer eigenen Vergangenheit kritisch stellt.
Peter T. Schmidt . |