. Dissertation: Psychologie der Menschenrechte Eine Rezension von Dr. Erich Schellhammer
Dr. Jürgen Eilerts Psychologie der Menschenrechte: Menschenrechtsverletzungen im deutschen Heimsystem (1945-1973) beinhaltet eine umfangreiche und detailgenaue Analyse der Berichte von westdeutschen Heimkindern vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages am 11.12.2006. Das Buch eruiert systemisch die Menschenrechtsverletzungen, die selbst für die damaligen Zeiten der autoritären Erziehungsvorstellungen offensichtlich waren. Die Doktorarbeit erklärt diese Missstände durch sozial-psychologische Modelle. Dr. Eilert setzt damit ein Mahnmal für die Menschenwürde. Das Buch wird dadurch zu einem weiteren Mosaikstein in den Reflektionen über deutsche Geschichte, die kausal dazu beiträgt, dass die Zielvorstellung der Menschenwürde für die deutsche Gesellschaft weiter konkretisiert wird.
Gemäß der Berichte war die Heimaktualität sowohl durch Konformität, Gehorsam, Erwartung der Akzeptanz hierarchischer sozialer Ordnungen geprägt als auch durch Deindividuation. Die Gewaltmanifestationen werden kategorisiert als die methodische Anwendung von körperlicher und psychischer Gewalt, als Gewaltexzesse, als sexuelle Gewalt und als Gewalt, die die Kinder deindividualisiert hat. Dr. Eilert beschreibt auch die Auswirkungen dieser Erfahrungen, wie z. B. eine erhöhte Selbstmordrate, gering ausgebildeten Selbstwert, Gewaltbereitschaft, sexuellen Mißbrauch durch die Leidensträger selber und andere Phänomene, die typisch sind für traumatisierte Menschen.
Erving Goffmans Arbeit über Institutionen wird herangezogen und festgestellt, dass die Heime den Merkmalen einer "Totalen Institution" entspricht. Bezeichnend für eine Totale Institution ist die persönlichkeitsverändernde Wirkung der Institution auf die Insassen. Dies wird bewerkstelligt durch die Beschränkung der sozialen Umwelt, durch die Kontrolle der Freiheitsräume, durch ökonomische Abhängigkeit, durch entwürdigende Eintrittsrituale, durch die Kontrolle des persönlichen Besitzes, durch unkalkulierbare körperliche und psychische Übergriffe, durch Internalisierung der Fremddefinition des Seins, durch Stigmatisierung, durch Entindividualisierung, durch Kontrolle der Lebenswelt durch willkürliche Inspektionen, durch Bloßstellungen und Beschämungen, durch Demütigungen unter den Insassen und durch die Verhinderung von positiven sozialen Verhältnissen.
Dies sind alles Erfahrungen, die durch die Berichte der ehemaligen Heimkinder belegt sind. Dabei stellt Dr. Eilert fest, dass diese Lebenswelt oft als normal empfunden wurde, sowohl von den Opfern als auch von den Tätern. Die Erfahrung einer Totalen Institution macht die Insassen abhängig von der Einrichtung. Sie haben dann oft erhebliche Probleme, sich in eine freiheitliche Gesellschaft zu integrieren.
Die Empathie des Autors gegenüber dem Schicksal der ehemaligen Heimkinder ist in dem Buch nachvollziehbar. Sie drückt sich sowohl durch rhetorische Herausstellungen der erfahrenen Ungerechtigkeiten aus, als auch durch eine Intoleranz gegenüber theoretischen Modellen, die menschenunwürdiges Verhalten rechtfertigen könnten. Insbesondere Theorien, die angeblich kommunikative Kohärenz als ausreichend erachten, um Systeme zu erklären und zu legitimieren, werden vehement angeklagt.
Als mögliche Erklärung für die Totale Institution und die berichteten Menschenrechtsverletzungen verwendet Dr. Eilert psychologische Konzepte. Er bezieht sich dabei auf die Begründung von Verhaltensmustern und Weltauffassungen durch mögliche synaptische Verbindungen in den unterschiedlichen Bereichen des Gehirns. Dabei sind Bereiche im Gehirn involviert, die der rationalen Einsicht schwer zugänglich sind.
Diese Bestimmung des Menschen kann auch durch Interventionen erreicht werden. Der Autor analysiert diesbezüglich auch die Stanley-Milgram-Studie und das Stanford-Prison-Experiment. In solchen Umständen treten Verhaltensmuster zutage, die in evolutionsgeschichtlichen Perioden der Menschwerdung eventuell sinnvoll waren, in der heutigen Zivilisation jedoch vermieden werden sollten, da sie in der Regel unserem Selbstverständnis des menschenwürdigen Daseins widersprechen.
Allerdings sind diese Perspektiven nach wie vor zugänglich und reproduzierbar. Sie lassen sich auch in der Gesellschaft nachweisen. Es kann auch durch Geschichtsanalyse bestätigt werden, dass eigentlich evolutionsgeschichtlich überkommene Verhaltensmuster bis heute gepflegt werden.
Dr. Eilert stellt diesbezüglich eine Verbindung her zwischen Reproduktionsvorstellungen, die Dominanzordnungen zugrunde legen. Demgemäß wird darauf geachtet, die durch die gesellschaftliche Vorstellung hochwertigen Mitglieder (das sind auch Kinder mit hohem Reproduktionspotential) zu fördern. Damit geht die Minderbewertung von Kindern aus gewissen Umständen einher, die sich oft durch Vernachlässigung und Schlimmeres ausdrückt. Diese aus heutiger Sicht primitiven Adaptionsvorstellungen lassen sich in den Heimen der Nachkriegszeit feststellen.
Darüber hinaus belegt der Autor, dass diese Adaptionsstrategien auch in der für Deutschland maßgeblichen Kulturgeschichte nachweisbar sind. Diese sieht Dr. Eilert zum Beispiel in der römisch geprägten patriarchalischen Familienordnung, die lange das deutsche Familienbild geprägt hat. In seiner geschichtlichen Analyse interpretiert Dr. Eilert das frühe Christentum als einen Versuch, die unterschiedliche Verteilung der Würde des Menschen zu überwinden. Allerdings hat sich diese revolutionäre Caritas in der weiteren geschichtlichen Entwicklung des Christentums nicht durchsetzen können. Dies hat zur Folge, dass das Abendland durchaus evolutionsgeschichtlich überholte Sozialadaptionsstrukturen bis in die heutige Zeit kennt und pflegt.
Eine tragische Wende in der Rezeption von menschenwürdigem Verhalten erfolgt im 19. und 20. Jahrhundert durch die Bevölkerungstheorie des Thomas Malthus, die Evolutionsbiologie (Lamarck, Ernst Haeckel), durch den Sozialdarwinismus und durch eugenetisches Gedankengut (Gobineau, Francis Galton, Alfred Ploetz, Alexander Tille). Dieses Gedankengut hat auch die Heimerziehung zu dieser Zeit beeinflusst (durch das Prinzip der Tüchtigkeit und dem Kriterium der Verwahrlosung im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz).
Diese Akzeptanz von vorgeschichtlich menschlichem Verhaltensmuster obsiegte während des Dritten Reiches. Seine Manifestationen sind für den Autor von besonderem Interesse, da sie einen Extremfall der Regression darstellen, die uns als abschreckende Beispiele dienen sollen und von denen wir lernen sollten. Mit dieser Einstellung gehört Dr. Eilert zu der neueren deutschen intellektuellen Kultur, die aufgrund einer Reflektion über das Dritte Reich Prinzipien für eine menschenwürdige Ordnung finden will und wohl auch gefunden hat.
Dr. Eilert untersucht in diesem Zusammenhang Dr. Robert Ritters Vorstellung von angeblich erblichen Anlagen zur Asozialität (die sich objektiv gesehen an der SS-Vorstellung des Menschen orientierte). Dr. Eilert beschreibt und analysiert Dr. Ritters Verwahrungsvorschläge für Jugendliche, die zum Beispiel im Jugend-Konzentrationslager Moringen umgesetzt wurden.
Des weiteren eruiert der Autor das Polen-Jugendverwahrlager in Litzmannstadt, in dem polnische Kinder und Jugendliche schon grundsätzlich als minderwertig galten - das heißt, völlig unabhängig davon, ob sie denn nun nach Nazi-Vorstellung als verwahrlost eingestuft wurden. Die Behandlung der Jugendlichen wird aufgezeigt, wobei ähnliche Erscheinungen in abgeschwächter Form auch in den Heimen der Nachkriegszeit nachgewiesen werden (dies geschah auch - für viele unverständlich - in christlich geprägten Heimen). Die Aktualität in Litzmannstadt war geprägt durch Einlieferungsrituale, Diagnostik, streng geregelten Tagesablauf, Kleidungskodex, Disziplin gekoppelt mit Strafe, Appelle, schlechte Nahrung, starke Arbeitsbelastung, Redeverbot, Misshandlungen und Erniedrigung, medizinische Unterversorgung, mangelnde Hygiene, Tod und sadistische Inszenierungen.
Dr. Eilert stellt als Gegenpol zu archaischen Dominanzgesellschaften die Gerechtigkeitsvorstellungen in der Rechtsphilosophie vor. Diese haben sich seit dem Codex Hammurabi immer weiter entwickelt. Heute finden diese Vorstellungen der Schutzpflicht gegenüber den Schwachen ihren Kulminationspunkt in den Menschenrechten der Vereinten Nationen, der UN-Kinderrechtskonvention und auch in der Grundnorm der Menschenwürde in der UN-Charta und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Das Buch erläutert auch sehr kurz die philosophiegeschichtliche Begründung der Menschenwürde. Dies ist ein zweifellos sehr ambitioniertes Vorhaben! Dabei kommt der Autor zu dem Schluss, dass unser Begriff der Menschenwürde immer noch erklärbar ist als eine Reaktion gegenüber den offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen der Nazis und ähnlicher menschenverachtender Gruppierungen.
Bezugnehmend auf Silivia Staub-Berlasconis Systemismus (einem Mittelweg zwischen Atomismus und Holismus) wird die Menschenwürde konkretisiert als ein "Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben und damit Bedürfnis- (nicht Wunsch-) Erfüllung und Wohlbefinden" (Seite 822) wobei genügend Ressourcen vorausgesetzt werden. Dies bedingt eine Machtkontrolle innerhalb von menschlichen Systemen in Anbetracht vorrangiger menschlicher Bedürfnisse, wie zum Beispiel Überlebens-, Unversehrtheits-, Freiheits-, Enfaltungs-, Orientierungs-, Liebes-, Anerkennungs- und Gerechtigkeitsbedürfnisse.
Dabei sind sich beide, Dr. Eilert und Dr. Staub-Berlasconi, bewusst, dass dies eine ständige Neubegründung aufgrund der Veränderungen des Sozialvertrags erfordert und dass es dabei keine metaphysische oder ethische Letztbegründungen gibt. Dennoch entsteht dadurch ein hinreichend definiertes Mandat für die Sozialarbeit, also die "Befriedigung biologischer, psychologischer und sozialkultureller Bedürfnisse" (Seite 825) im Rahmen vorhandener Ressourcen.
Für den Autor ist die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 ein Ausdruck dieser Auffassung der Menschenwürde für Kinder. Er geht auch ausführlich auf den Schutz unverletzlicher Menschenrechte im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland ein (wobei der besondere Schwerpunkt auf der verfassungsgemäßen Auslegung des Art 1 und 2 GG liegt). Viele dieser Rechte wurden Kindern in Heimen der frühen Nachkriegsjahre nicht gewährt und dadurch wurden viele in ähnlicher Weise traumatisiert wie wir es von Folteropfern, den Opfern von sexuellem Missbrauch und von Kriegsteilnehmern kennen.
Die Folgen sind oft irreparable Schäden der Psyche mit bekannten Auswirkungen. Menschenwürde heißt auch, Menschen vor solchen Einflüssen zu schützen, die "den Mensch psychisch, sozial, politisch, religiös oder ökonomisch so vereinnahmen, dass er keine eigene Stellungnahme zu seinem ihn funtionalisierenden Umfeld mehr abgeben kann" (Seite 891).
Dr. Eilerts monumentales Werk analysiert die Struktur vieler Kinderheime des 19. und 20. Jahrhundert. Die Ergebnisse stimmen mit den Beschreibungen von sozialen Institutionen für diese Zeit durch post-Strukturalisten, wie zum Beispiel Michel Foucault, weitgehend überein. Das industrielle Zeitalter ist demgemäß geprägt durch soziale Strukturen, die einen Menschentypus produziert, der seine gesellschaftliche Rolle als individuelle Selbstverwirklichung begreift. Dabei wird auch in Kauf genommen, dass Randgruppen systematisch ausgegrenzt oder, im schlimmsten Fall, ausgemerzt werden.
Dem Autor gelingt es durch seine Analyse, die vorherrschende Heimstruktur der Nachkriegsjahre bis 1974 aufgrund einer pschychologisch-ontologischen Argumentation als menschenunwürdig zu erklären. Dies verstärkt die geschichtsbezogene Perspektive, bzw. den Diskurs in Deutschland, aus den schrecklichen Erfahrungen der Nazi-Diktatur zu lernen und eine bessere Gesellschaft zu schaffen.
Eine psychologisch-ontologische Vorgehensweise ermöglicht auch eine Beurteilung ähnlicher Erscheinungen in der Welt, wie zum Beispiel die Erfahrungen vieler Ureinwohner in Internaten in Kanada und Australien - Gesellschaften, die den deutschen Kulturbezug zum Dritten Reich ja nicht kennen. Der neurowissenschaftliche Ansatz birgt auch die Hoffnung, dass den Opfern durch positive Interventionen geholfen werden kann (eine Aufgabe, die sich oft über Generationen hinzieht).
Psychologie der Menschenrechte. Menschenrechtsverletzungen im deutschen Heimsystem (1945-1974) ist ein Mahnmal für die Menschlichkeit. Diese Dissertation belegt anschaulich, wie einfach und wie gefährlich es ist, archaischen Dominanzstrukturen zu verfallen. Viel Arbeit ist jedoch noch nötig, um die Menschenwürde zu aktualisieren. Dazu muss wohl die richtige Gesinnung geschaffen werden und dieses Buch kann diesem Zweck dienen. Es ist auch besonders gut geeignet für Sozialarbeiter, die sich bewusst sein müssen, dass ihr Berufsstand viel Macht vermittelt, die dazu genutzt sein soll, dem Menschen eine würdiges Dasein zu ermöglichen.
Erich P. Schellhammer, M.A., Ph.D., Associate Professor, Co-Program Head, B.A. in Justice Studies, School of Peace and Conflict Management, Royal Roads University, Kanada . |