. Akten, Fakten und Legenden. Die Bedeutung diakonischer Archive, dargelegt am Beispiel der Betheler Aktendokumentation zur "Euthanasie"
Matthias Benad1
Die verfaßten Kirchen haben den Umgang mit Archivgut seit Jahrhunderten eingeübt. Pfarreien und geistliche Institute unterschiedlicher Verfassung und Funktion hatten lange Zeit hoheitliche Aufgaben inne, die heute überwiegend oder ausschließlich in die Zuständigkeit des Staates fallen (so z.B. das Führen von Personenstandsverzeichnissen, amtliche Bekanntmachungen, Organisation und Beaufsichtigung des Schulwesens, im Mittelalter bisweilen auch Steuererhebung. Teile der Gerichtsbarkeit). Die Verwaltungs- und Leitungsorgane vieler evangelischer Territorialkirchen gingen aus landesherrlichen Regierungs- und Polizeibehörden hervor. So war es selbstverständlich, daß kirchliche und weltliche Öbrigkeiten immer wieder Rechtsvorschriften erließen, die zur Aufbewahrung von Urkunden, Rechnungen, Verzeichnissen, Altakten u. dergl, verpflichteten.
Anders sieht es dagegen im Bereich der Inneren Mission und der Diakonie aus. Die meisten ihrer Einrichtungen sind recht jung: Sie entstanden im 19. und 20. Jh. aus freien Initiativen außerhalb der verfaßten protestantischen Kirchen, als diese sich mit ihren behördlichobrigkeitlichen Strukturen weitgehend unfähig zeigten, auf religiöse und soziale Herausforderungen im Zusammenhang der Industrialisierung zu reagieren. Männer oder Frauen, die in der Leitung freier christlicher Vereine tätig waren, fertigten zwar Aufzeichnungen an und sammelten Korrespondenzen, die mit ihrer meist ehrenamtlichen Tätigkeit zusammenhingen, gaben davon aber nur wenig an ihre Nachfolger oder Nachfolgerinnen weiter.
Manche Einrichtungen, die auf Vereinsinitiativen zurückgingen, wurden wie die drei Betheler Anstalten vom König oder vom Staat als "milde Stiftungen" anerkannt und bekamen Korporationsrechte verliehen. Sie wurden so zu juristischen Personen, genossen öffentliche Förderung und unterstanden staatlicher Aufsicht. Zwar mußten in solchen Anstalten Urkunden, Protokolle, Jahresrechnungen, Akten betreuter Personen und Korrespondenzen mit staatlichen und kirchlichen Behörden sorgfältig geführt und verwahrt werden, um die laufende Arbeit zu gewährleisten. Über den Umgang mit abgelegten Akten existierten jedoch selten eindeutige Vorschriften. Auch mangelte es in der Regel an Archiven, die für Sichtung, Aussonderung, Verwahrung und Verzeichnung der Altakten zuständig gewesen wären.
Auch in großen diakonischen Einrichtungen wie den v. Bodelschwinghschen Anstalten, die seit Jahrzehnten über ein Archiv verfügen, hat die ungeklärte Frage, wie mit Altakten umzugehen und wie der Zugang zu Archivgut zu regeln sei, ihre Spuren hinterlassen. Das sei im folgenden kurz dargelegt am Beispiel des HAUPTARCHIVS BETHEL und anhand des Umgangs mit der seit nunmehr ca. 30 Jahren dort aufbewahrten Aktendokumentation über den Kampf der Anstaltsleilung gegen die als "Euthanasie" bezeichneten Krankenmorde der Nationalsozialisten.
Probleme eines Anstaltsarchivs
Die seit ca. fünf Jahrzehnten übliche Bezeichnung "HAUPTARCHIV BETHEL" ist geeignet, den Eindruck zu erwecken, es handele sich hierbei seit jeher um eine zentrale Einrichtung der drei von Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. (1831-1910, Anstaltsleiter seit 1872) geformten Anstalten, die in der Ortschaft Bethel in Bielefeld (bis 1972: bei Bielefeld) ansässig sind; diese sind 1.) die RHEINISCH-WESTFÄLISCHE ANSTALT FÜR EPILEPTISCHE, gegründet 1867, die unter Bodelschwingh den Namen BETHEL annahm, der nachher auf die Ortschaft überging und oft auch synonym für die gesamten v. Bodelschwinghschen Anstalten gebraucht wird. Bodelschwingh baute in Bethel zahlreiche neue Arbeitsfelder auf (Wanderer- und Arbeitslosenfürsorge, Psychiatrie, Jugendfürsorge, Ausbildung von Pfarramtskandidaten, Mission, Theologische [Hoch-]Schule, etc.); 2.) die WESTFÄLISCHE DIAKONISSENANSTALT SAREPTA, gegründet 1869 in Bielefeld, die von Bodelschwingh 1872 nach Gadderbaum-Bethel verlegt wurde, um ausreichend Arbeitskräfte für den Ausbau der Epileptischenanstalt zu gewinnen; sie wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum weltweit größten Diakonissenhaus heran, hat aber seit zwanzig Jahren praktisch keinen Nachwuchs mehr; 3.) die WESTFÄLISCHE DIAKONENANSTALT NAZARETH, 1877 nach dem Vorbild Sareptas als Mutterhaus gegründet, lange Zeit das größte der ca. zwanzig Brüderhäuser in Deutschland. Seit 1974 werden dort auch Diakoninnen ausgebildet.
Man könnte vermuten, im BETHELER HAUPTARCHIV lagerten neben Überlieferungen zu den leitenden Persönlichkeiten Bethels die Allregistraturen der BEIDEN RELIGIÖSEN PERSONALGENOSSENSCHAFTEN (" MUTTERHÄUSER" ["SAREPTA" und "NAZARETH"]) und der ANSTALT BETHEL, IHRER TEILANSTALTEN (ECKARDTSHEIM, FREISTATT etc.) und IHRER TOCHTERGRÜNDUNGEN (z.B. der BETHELMISSION 1886/1906, der THEOLOGISCHEN SCHULE/KIRCHLICHE HOCHSCHULE BETHEL 1905, der HOFNUNGSTALER ANSTALTEN ab 1905, der AUFBAUSCHULE ab 1925). Zwar läßt sich in diesem Archiv zu den genannten Themenbereichen vieles finden, denn es existiert eine ausführliche, überwiegend nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute Dokumentation, die umfangreiches Material zu Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. und seiner Familie und zur Anstaltsgeschichte enthält. Ein 1976 vom westfälischen Landesamt für Archivpflege in Münster (jetzt: "Westf. Archivamt") erarbeitetes Gutachten stellte aber bereits fest, daß aus mehr als einhundert Jahren Verwaltungsgeschichte des Anstaltskomplexes "herzlich wenig" Registraturgut übriggeblieben ist. Das hat seine Ursache darin, daß das HAUTPARCHIV BETHEL aus einer Sammlung persönlicher Arbeitsunterlagen der Anstaltsleiter hervorgegangen ist. Das vorrangige Interesse galt zunächst dem Leben und Wirken Friedrich von Bodelschwinghs des Älteren. In zweiter Linie kam das Wirken seiner Nachfolger in den Blick. Dabei konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf seinen gleichnamigen Sohn, Friedrich von Bodelschwingh den Jüngeren, der ihm direkt im Amt folgte ("Pastor Fritz", 1877-1946, Anstaltsleiter ab 1910). Erst in den beiden letzten Jahrzehnten hat das Hauptarchiv einige zentrale Funktionen übernommen.
Die historischen Überlieferungen der v. Bodelschvvinglischcn Anstalten werden also nicht zentral verwahrt. Sie bieten sich dar als eine Art ARCHIVALISCHE LANDSCHAFT. Diese besteht neben dem Hauptarchiv Bethel, dessen Leiter die Fachaufsicht über die Teile ausübt und für die Archivpflege in den Anstalten verantwortlich ist, aus dem ● SAREPTAARCHIV, das seit 1995 nicht mehr von einer Diakonisse im Feierabend geführt wird, sondern unter der Leitung einer hauptamtlich Archivarin steht und seither öffentlich zugänglich ist; ● dem NAZARETH-"ARCHIV, bei dem es sich genaugenommen um die ehrenamtlich betreute Altaktenablage der Diakonenanstalt handelt, die seit mehreren Jahren auf dem mühsamen Wege ist, zu einem Archiv zu werden. Ab Frühjahr 1998 werden dort im Rahmen eines Werkauftrags erstmals Bestünde verzeichnet; ● dem ARCHIV DER DIAKONIE FREISTATT IM KREIS DIEPHOLZ [IN NIEDERSACHSEN ] begrenzten Maßnahme von drei Jahren, die mit dem Freistätter Anstaltsjubiläum 1999 in Verbindung steht, eingerichtet, geordnet und verzeichnet wird; ● dem ARCHIV ECKARDTSHEIM, einer ebenfalls vom Hauptarchiv angeleiteten historischen Dokumentation, sowie der ● AKTENABLAGE IN HOMBORN; ● SACHQUELLEN werden außerdem verwahrt in DER HISTORISCHEN SAMMLUNG, DEM ANSTALTSMUSEUM, DAS IM GRÜNDUNGSHAUS BETHELS UNTERGEBRACHT UND DEM HAUPTARCHIV ZUGEORDNET IST; es wird von einer Historikerin geleitet.
Bis in die Gegenwart hinein sind die Akten und Verzeichnisse der BEIDEN RELIGIÖSEN PERSONALGENOSSENSCHAFTEN SAREPTA und NAZARETH, die rechtlich selbständig sind, NICHT BESTANDTEIL DES HAUPTARCHIVS und, wenn überhaupt, nur in begrenztem Umfang über dieses zugänglich. Das liegt zum einen an der rechtlichen Selbständigkeit der Stiftung, zum anderen am besonderen Charakter der Akten, die, sofern sie personenbezogen sind, den entsprechenden Datenschutzbestimmungen unterliegen. Auch finden sich in vielen Schwestern- und Brüderakten, anders als in "weltlichen" Personalakten, Korrespondenzen persönlichen, bisweilen auch seelsorgerlichen Inhalts.
Bei Umbaumaßnahmen und Abrissen sind in den Ortschaften der v. Bodelschwinghschen Anstalten seit den 50er Jahren leider immer wieder Dachböden und Keller von Anstaltshäusern geräumt worden, ohne daß dort verwahrte Unterlagen vor der "Entsorgung" gesichtet werden konnten. So ist die Bergung mancher Bauzeichnungen aus dem Bauamt Bethel, die Bewahrung alter Versand-Kataloge des Anstaltskaufhauses Ophir oder die Bewahrung von Kladden mit tabellarischen Lebenslaufen der Diakone, die zwischen den 1890er und 1930er Jahren in NAZARETH eingetreten sind, nur der Initiative einzelner zu verdanken. Es ist schwer sicherzustellen, daß individuell geborgenes Material noch den Weg ins Hauptarchiv oder in eine der anderen genannten Einrichtungen findet. Seit Anfang der 1980er Jahre kann der leitende Archivar Bethels aber zunehmend Erfolge verzeichnen bei der Durchforstung der "Gebäude in Bethel und den Außenstellen auf etwa noch vorhandenes Aktengut und einschlägige Druckschriften", wie sie das erwähnte Gutachten von 1976 ausdrücklich empfohlen hatte. Seine rechtzeitige Initiative nach der Wende 1989 hat es außerdem möglich gemacht, daß die von Bodelschwingh 1905 gegründeten HOFFNUNGSTALER ANSTALTEN IN LOBETAL BEI BERLIN EIN SELBSTÄNDIGES ARCHIV einrichten konnte, das inzwischen unter eigener hauptamtlicher Leitung steht. Weil diakonische Einrichtungen nicht unmittelbar kirchlicher Archivgesetzgebung unterliegen, wird im HAUPTARCHIV BETHEL seit einigen Jahren im Rahmen der allgemeinen Rechtsbestimmungen das ARCHIVGESETZ DER EVANGELISCHEN KIRCHE VON WESTFALEN ANGEWANDT. Diese Praxis soll im Laufe dieses Jahres durch Vorstandsbeschluß ratifiziert werden.
Das HAUPTARCHIV BETHEL hat derzeit sechs Mitarbeiter, davon drei feste. Im SAREPTAARCHIV arbeitet außer der genannten Archivarin eine Schwester. In den übrigen Bereichen sind Mitarbeiter im Rahmen von Zeitverträgen, Werkverträgen und ehrenamtlich tätig. Damit hat seit Erstellung des Gutachtens vor 20 Jahren im GRÖßTEN KOMPLEX DIAKONISCHER EINRICHTUNGEN IN DEUTSCHLAND (UND WELTWEIT) archivalische Arbeit einen festen Platz gewonnen, wenn auch der 1976 für Bethel empfohlene Stand der Sicherung, Verzeichnung und Zentralisierung bei Wahrung der dezentralen Interessen, die sich aus der Struktur Bethels ergeben noch lange nicht erreicht ist .
Fallbeispiel "Euthanasie"-Akten
Welche Probleme sich nicht nur, aber auch aus der jahrzehntelang ungeklärten archivalischen Situation in Bethel für das historische Gedächtnis der v. Bodelschwinghschen Anstalten und für ihre Darstellung nach außen ergaben, sei im folgenden am Umgang mit den "Euthanasie"-Akten dargelegt:
Der Wunsch, die v. Bodelschwinghschen Anstalten möchten ihren 1940-1945 geführten Kampf gegen die "Euthanasie" öffentlich dokumentieren, war schon kurz nach Kriegsende an Bethel herangetragen worden. Man hielt es damals aber nicht für angebracht, dieser Bitte nachzukommen. Die vorhandenen Dokumente wurden geordnet und verzeichnet, um sie der Anstaltsleitung verfügbar zu halten. Den Kern der "Euthanasie"-Akten bildeten und bilden noch heute die diesbezüglichen bruchstückhaften Handakten Fritz von Bodelschwinghs. Ein undatiertes, wohl 1946/47 erstelltes Verzeichnis hält den damaligen Bestand fest - und läßt zugleich erkennen, daß etwa ein Viertel der seinerzeit vorhanden Dokumente schon nicht mehr vorlag, als der Bestand um 1967 aus dem Büro des Anstaltsleiters in die Obhut des Hauptarchivs kam.2 Inwieweit nachlässiger Gebrauch oder gezielte Entnahme Ursachen der Verluste sind, läßt sich nicht erkennen. Sicher ist aber daß Teile der Akten bis in die sechziger Jahre an leitende Anstaltsmitarbeiter ausgeliehen wurden, die z.B. in den Prozessen gegen die "Euthanasie"-Verantwortlichen als Zeugen geladen waren. Vielleicht kamen manche entliehenen Unterlagen nicht zurück.
1964 forderte auch der Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Ernst Wilm, Bethel auf, eine Dokumentation vorzulegen3, weil aufgrund von Aussagen in laufenden "Euthanasie"-Prozessen irreführende Darstellungen durch die Presse gegangen waren. Kurz zuvor hatte der damalige Leiter der Anstalten, Friedrich [III] von Bodelschwingh (1902-1977) 4, in einem öffentlichen Vortrag während der Theologischen Woche begründet, warum bisher "Bethel nie einen authentischen Bericht hierüber ausgegeben hat": Zum einen sei das Wesentliche mündlich verhandelt worden; verfängliche Dokumente habe man seinerzeit vermieden, um bei etwaigen Hausdurchsuchungen niemanden in Gefahr zu bringen. "So sind die nachgebliebenen Akten von einer geradezu verblüffenden Dürftigkeit und Unordnung, die in einem sehr krassen Gegensalz stehen zu der peinlichen Ordnung, die sonst in unseren Anstaltsakten im allgemeinen gewahrt wird." Andererseils wäre durch eine Veröffentlichung "eine trübe Geschichte des Versagens vieler christlicher Kreise deutlich" geworden. "Das Ende wären Vorwürfe und Bloßstellungen von sonst ehrenwerten Menschen gewesen. Wir hatten damals etwas anderes zu tun, als solche nachträglichen Vorwürfe zu erheben, die doch nichts ändern konnten." 5
Während der Vorbereitungen auf seinen Vortrag hatte Friedrich III feststellen müssen, daß die in dem erwähnten Inhaltsverzeichnis von 1946/47 aufgeführten Briefe nicht mehr alle vorhanden waren. Bodelschwingh bemerkte dazu: "Da die Akte nur wenigen uns genau bekannten Personen vorgelegen hat, stehen wir hier vor einem Rätsel".6
Legendenbildung
Gleichwohl war Bethels Einsatz für die Kranken nach dem Krieg der Öffentlichkeit wirkungsvoll vermittelt worden. In moderater, aber bereits unvollständiger Weise war das z. B. im "Boten von Bethel", in der Bilderzeitung "Wochenend"7 und in Gedenkpublikationen zu Fritz von Bodelschwingh geschehen. Der Journalist Kurt Pergande war 1953 einen aus historischer Sicht höchst bedenklichen, aber besonders wirksamen Weg gegangen. Unter Verwendung einzelner Stücke aus der Aktendokumentation der Anstaltsleitung, die ihm offenbar zugänglich gemacht worden waren, und mit Unterstützung der Betheler Öffentlichkeitsarbeit "Dankort" verfaßte er eine freie journalistische Dramatisierung des Stoffs, die als Buch weite Verbreitung fand.8 Seine Darstellung hat mit dem tatsächlichen Ablauf der Ereignisse wenig zu tun, erinnert aber um so mehr an mittelalterliche Heiligenlegenden. Pergande erfand den Besuch einer nie dagewesenen "kleinen Ärztekommission" in Bethel, schob einen Kurzaufenthalt von Hitlers Leibarzt Karl Brandt bei Bodelschwingh ein und ließ den Anstaltsleiter zu einem Besuch ins Berliner Schloß Monbijou reisen, wo er auf lauter Nazigrößen traf und die beiden "Euthanasie"-Beauflragten Hitlers, Karl Brandt und Philipp Bouhter, kurzerhand nach Bethel einlud. Tatsächlich war aber so leicht an die Täter nicht heranzukommen. Bodelschwingh mußte sich 1940/41 fast elf Monate lang mit größtem diplomatischen Geschick abmühen, bis es ihm gelang, gehört zu werden. Tatsächlich ist ein Besuch in Monbijou auch nirgendwo überliefert. Bodelschwingh hat aber am 13. Februar 1943 Karl Brandt in seiner Berliner Wohnung in Schloß Bellevue aufgesucht. Dies mag Anlaß für eine Verwechslung gegeben haben, die sich bruchlos in eine Darstellung einfügt, in der auch sonst noch an vielen Stellen Irrtum und Phantasie eine skurrile Verbindung mit Tatsachenüberlieferungen eingegangen sind. Tatsächliche und fiktive Ereignisse wurden von Pergande in einer frei erfundenen Chronologie miteinander verknüpft, die auf ein alles entscheidendes Gespräch zwischen Bodelschwingh und Brandt zusteuert. Fritz von Bodelschwingh wird dabei stilisiert als "Der Einsame von Bethel" so der Titel des Buches , der "mit seherischer Kraft" gegen die Dämonen des Nationalsozialismus kämpft, sich nach Berlin in die Höhle des Löwen wagt, um die Widersacher herauszufordern und schließlich den für die Tötungen verantwortlichen Leibarzt Hitlers in einem einzigen Gespräch niederzuringen: "... der Stärke und Überzeugungskraft seines Glaubens mußte auch Brandt sich beugen", Pergandes Darstellung erweckte den Eindruck eines historischen Tatsachenberichts und wurde entsprechend rezipiert. Selbst ins Literaturverzeichnis des Artikels über die beiden Friedrich von Bodelschwingh, Vater und Sohn, in der Theologischen Realenzyklopadie hat das Buch Eingang gefunden. Als im August 1963 anläßlich des Frankfurter Prozesses gegen "Euthanasie"-Ärzte Presseinformationen über die Vorgänge in Bethel 1940-45 gefragt waren, griff der Korrespondent der Deutschen Presseagentur im Außenbüro Bielefeld auf Pergandes Darstellung zurück, um sich daraus für einen Bericht "an alle deutschen Rundfunkanstalten, Fernsehsender und Zeitungen sowie ausländische Nachrichtenagenturen" kundig zu machen.9 Damit waren die Entstellungen Pergandes zur offiziellen historischen Darstellung zur Rolle der Anstalten im Kampf gegen die "Euthanasie" geworden. Zur selben Zeit war die mittlerweile fragmentierte Aktendokumentation für die wissenschaftliche Bearbeitung noch nicht zugänglich.
Daß 1963 der damalige Anstaltsleiter Friedrich [III] von Bodelschwingh leicht abschätzig von "der journalistisch aufgemachten Story" sprach, "die Pergande von dem Ganzen gegeben hat"10 zeigt jedoch an, daß das Bedürfnis nach zuverlässiger Information wuchs. So kam 1967 in der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Anstalten Pastor Eduard Würmann mit einer kurzen Darstellung der "Euthanasie"-Ereignisse in Bethel zu Wort. Er benutzte dazu die erwähnte Aktendokumentation, berichtete aber zugleich als Augenzeuge. Als Leiter der Bethelkanzlei hatte er seinerzeit die Auseinandersetzungen unmittelbar miterlebt und war in vielem von Fritz von Bodelschwingh ins Vertrauen gezogen worden. Auch er kam zu der in den v. Bodelschwinghschen Anstalten damals allgemein vertretenen Einschätzung, Bethel sei "wirklich davor bewahrt geblieben, daß Kranke zur gewaltsamen Tötung abgeholt wurden."11 Nach der Jubiläumsfeier entstand auch das Bethel-Arbeitsheft 1 zum Thema "Bethel in den Jahren 1939-1943 eine Dokumentation zur Vernichtung lebensunwerten Lebens" (Bethel 1970), das von Anneliese Hochmuth erarbeitet worden war. Das Heft bot auf der Basis der "Euthanasie"-Akten Bethels eine kurze, insgesamt zuverlässige Zusammenstellung der wichtigsten Ablaufe und Daten, soweit sie aus der Aktendokumentation zu erheben waren. Diese wies aber wie gesagt wesentliche Lücken auf. Allem Anschein nach war dies die erste umfassende Benutzung der "Euthanasie"-Akten für eine Publikation. Kurz zuvor war wohl bei Gelegenheit des Anslaltsleiterwechsels von Friedrich [III] von Bodelschwingh zu Alex Funke die Aktendokumentation ins Hauptarchiv gegeben worden.
Im Jubiläumsjahr erschien schließlich auch Wilhelm Brandts Biographie über Fritz von Bodelschwingh.12 Brandt gab darin zur "Euthanasie" eine Charakterisierung der Motive und Handlungen des ihm aus vielen Jahren gemeinsamer Arbeit vertrauten und hochverehrten Anstaltsleiters, ohne allerdings den Ablauf der Ereignisse chronologisch zuverlässig wiederzugeben. Seine Darstellung wurde vielmehr durch eine Reihe Fehldatierungen verunklart. Beiläufig gab er aber den Hinweis, daß im September 1940 acht jüdische Patientinnen und Patienten "abgeholt" es müßte genau heißen: auf Anordnung des Reichsinnenministeriums verlegt und nachher im Rahmen des "Euthanasie"-Mordprogramms umgebracht worden waren. Spätere Auflagen des Bethel-Arbeitsheftes 1 berücksichtigten dies und erschienen bis zur letzten, vierten Auflage 1979 mit einem entsprechenden Nachtrag.13 In all diesen PUBLIKATIONEN BETHELS ZUR" EUTHANASIE" kam die Haltung Bodelschwinghs und Bethels zu Eugenik und Zwangssterilisationen nicht zur Sprache. Das änderte sich auch nicht durch Kurt Nowak, der in seiner 1971 in Leipzig angenommenen, aber erst einige Jahre später publizierten Dissertation "'Euthanasie' und Sterilisierung im Dritten Reich" auf die inhaltliche Verwandtschaft beider Themen hingewiesen hatte und dabei auch auf die Rolle Fritz von Bodelschwinghs eingegangen war.14
Korrektur
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[ Fußnoten ]
1 Professor Dr Matthias Benad leitet die Forschungsstelle für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Bei dem vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine aktualisierte Fassung des Beitrages "Akten, Fakten und Legenden Zur Bedeutung diakonischer Archive, dargelegt am Beispiel der v Bodelschwinghschen Anstalten Bethel", in: Archivbericht Nummer 8 der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, 1997, S. 5-14. 2 Die Aktendokumentation wird heute verwahrt im HAB (Hauptarchiv Bethel) unter 2/39 186 bis 196 im hier aufgeführten ehemaligen Bestand E 25,2, der wohl aus Handakten Fritz von Bodelschwinghs zusammengestellt worden war, steht bei ca einem Fünftel der Dokumente eingetragen von Frau Pastorin lmort, die bei der Übergabe der Unterlagen im Archiv tätig war der Vermerk "fehlt". 3 Ernst Wilm an Eduard Wormann, 6. April 1964, HAB 2/39-193. 4 Leiter der Anstalt Bethel 1946-1959, anschließend bis 1967 Leiter der Gesamtanstalten. 5 Der Vortrag hatte den Titel "Die Frage des Iebensunwerten Lebens und das erste Gebot". Er befindet sich mit Aufzeichnungen aus der anschließenden Diskussion in HAB 2/39-193. 6 Friedrich III von Bodelschwingh an Ludwig Schlaich, Bethel, den 18 Juli 1963, HAB 2/39-193. 7 Bote von Bethel Neue Folge Nr. 11, 1950, 4 f Wochenend, erschienen im Olympia Verlag, Nürnberg, vgl Nr. 40 vom 1.10 1952, S. 6 und 14 in HAB 2/39-192. 8 Kurt Pergande. Der Einsame von Bethel, Stuttgart 1953. Bei dem "Einsamen" handelt es sich eigentlich um zwei Personen, nämlich "Vater Bodelschwingh", dem der größte Teil der Darstellung gewidmet ist, und seinen gleichnamigen Sohn, der Pergande Zufolge mit der Anstaltsleitung auch diese Rolle übernahm. 9 Allem Anschein nach tat er das in Abstimmung mit dem damaligen Leiter der Anstalt Bethel, vgl das Schreiben des dpa-Korrespondenlen Manfred Hellmann an [Hermann] Wilm, Bielefeld, 27.8.63, HAB 2/39-193; ebendort auch die dpa-Korrespondenz von Manfred Hellmann sowie seinen Artikel: Bethel war Bollwerk gegen Euthanasieprogramm, in: Westfälische Zeitung vom 28 August 1963, Zwischen Weser und Rhein. 10 In dem in Anm. 4 erwähnten öffentlichen Vortrag während der Theologischen Woche. 11 Hundert Jahre Diakonie in Bethel, Bethel 1967, 58-61, Zitat 61. 12 Friedrich von Bodelschwingh I877-1946. Nachfolger und Gestalter, Bielefeld-Bethel 1967, 186-211. 13 S. 34 f Nach heutigem Kenntnisstand sind außer den jüdischen Patienten noch einige Betheler Patienten der sogenannten "wilden Euthanasie" ab Ende 1941 zum Opfer gefallen, nachdem sie auf Anordnung der Provinzialverbände hatten in staatliche Anstalten verlegt werden müssen. Zu den befürchteten Transporten ist es in Bethel aber nicht gekommen. 14 Göttingen, 3. Aufl. 1984, 93 f., 148-151; erste Aufl. 1978. . |