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Erhard Denninger Jugendfürsorge und Grundgesetz*
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I.
Jedes Kind und jeder Jugendliche hat ein »Recht auf Erziehung« (§ 1 Abs. I JWG), d. h. auf Entwicklung und Ausbildung derjenigen Fähigkeiten, die eine selbstverantwortliche Existenz im beruflichen und im privaten Leben sowie in einer demokratischen Gesellschaft politisch mündiger Bürger voraussetzt. Die in der Hessischen Landesverfassung (Art. 56 Abs. IV) nominierten Ziele der staatlich-schulischen Erziehung müssen als richtungsweisend angesehen werden, wo immer der Staat in mittelbarer oder unmittelbarer Verwaltung öffentliche Erziehungsaufgaben wahrnimmt. Insbesondere sind sie bei der Durchführung der Freiwilligen Erziehungshilfe [ auch Erziehungsfürsorge genannt ] und der Fürsorgeerziehung zu beachten. Diese Erziehungsziele sind:
- Heranbildung des jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit.
- Vorbereitung zu beruflicher Tüchtigkeit und zu politischer Verantwortung.
- Vorbereitung zum selbstständigen und verantwortlichen »Dienst am Volk und der Menschheit« durch Entwicklung der Tugenden: Ehrfurcht, Nächstenliebe, Achtung und Toleranz, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit.
Der »Dienst am Volk und der Menschheit« wird geleistet, indem der Bürger seinem Beruf nachgeht und seine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wahrnimmt.
Die Auffassung 1, der Normierung eines Rechts auf Erziehung in § 1 Abs. I JWG komme nur die Bedeutung eines nicht unmittelbar rechtswirksamen Programmsatzes zu, ist verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die staatliche Gemeinschaft ist verpflichtet, bedürftigen Mitbürgern zur Schaffung oder Erhaltung einer menschenwürdigen Existenz Hilfe zu leisten. Das folgt aus dem Auftrag, die Menschenwürde zu schützen (Art. 1 Abs. I Satz 2 GG) sowie auf den Grundsatz der Gewährung gleicher Chancen (Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. I GG). Der Gesetzgeber hat anerkannt, daß dieser staatlichen Pflicht ein subjektiv-öffentliches Recht des Bedürftigen korrespondiert (vergl. § 1 Abs. II und § 4 BSHG). Abgesehen davon, daß auch den Minderjährigen die Rechte aus dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zustehen, zumal das Recht auf Ausbildungshilfe (§§ 31 ff. BSHG), lassen sich die verfassungsrechtlichen Grundgedanken der allgemeinen Sozialhilfe auf die Jugendfürsorge sinngemäß übertragen: Der Staat erfüllt seinen Sozialauftrag, der seinerseits Ausdruck der Menschenwürde-Schutzverpflichtung ist, indem er sein Mindestmaß an Chancengleichheit der heranwachsenden Bürger garantiert und dem
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Jugendlichen einen gesetzlich näher auszugestaltenden [ 380 ] Rechtsanspruch darauf einräumt, in den Genuß angemessener Erziehungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu gelangen. Der erziehungsbedürftige Jugendliche ist insoweit [ mit ] dem fürsorgebedürftigen Erwachsenen zu vergleichen.
Eine weitere Überlegung führt ebenfalls zur Bejahung des »Rechtes auf Erziehung« was immer sein Inhalt im einzelnen sein mag: wenn unsere vom Grundgesetz gewollte und garantierte Gesellschaftsordnung auf der freien Selbstbestimmung des sich seiner gesellschaftlichen Umwelt verpflichtet wissenden Bürgers aufbaut (Art. 2 GG 2), so muß diese Gesellschaftsordnung auch die elementaren Voraussetzungen erkennen und wollen, welche die freie Entscheidung der Persönlichkeit überhaupt erst ermöglichen. Für das Kind bedeutet dies: Einführung in den Sozialisationsprozeß, Erziehung. Dem Entfaltungsrecht des Erwachsenen entspricht also der Erziehungsanspruch des Kindes als eine Anleitung zu allmählich sich entwickelnder Selbstentfaltung 3.
II.
Aus diesem Verständnis des Rechtes auf Erziehung als eine Bedingung und Vorstufe des Rechtes auf autonome Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) ergeben sich erste Grenzbestimmungen: In dem Maße, in dem die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in Erscheinung tritt, nimmt das Recht des Kindes, erzogen zu werden [, zu ], nehmen auch Recht und Pflicht des Erziehers, erziehend einzuwirken, ab 4. »Bevormundende Fürsorge« ist niemals Selbstzweck, sondern »Hilfe zur Selbsthilfe«, d. h. hier: Anleitung zur Autonomie.
Alle Einzelmaßnahmen der öffentlichen Jugendfürsorge sind unter diesen Maßstab zu stellen.
III.
Verfassungsgemäße Erziehung wirkt also auf einen Reifungsprozeß ein, der durch die allmähliche Ablösung der Fremderziehung (Heteronomie) durch Selbsterziehung (Autonomie) gekennzeichnet ist. Diesem Sachverhalt trägt der rechtlich-normative Rahmen Rechnung: Während jeder Mensch vom Beginn seiner Existenz an »Träger«, Subjekt von Rechten und Grundrechten ist, kann er diese seine Rechte doch erst nach Erreichung gewisser Altersschwellen selbst aktiv ausüben. Das Privatrecht zieht diese Altersgrenzen (der beschränkten und unbeschränkten bürgerlich-rechtlichen Geschäftsfähigkeit) schematisch beim siebten bzw. 21. Lebensjahr. Entsprechende Einzelregelungen für die »Mündigkeit« in Bezug auf einzelne Grundrechte sieht die Verfassung nicht vor. Es wäre aber nicht nur sachlich unbegründet, sondern geradezu grundgesetzwidrig, wollte man das privatrechtliche Schema ohne nähere Prüfung in den grundrechtlichen Bereich übernehmen. Das würde, um nur ein Beispiel anzuführen, zu so unsinnigen Ergebnissen führen, daß zwar (wie jetzt gesetzlich geplant) einem Achtzehnjährigen eine verantwortliche Wählerentscheidung zugemutet werden könnte, ihm aber sonst bis zum 21. Lebensjahr das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit vorenthalten werden könnte.
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Dem in Art. 2 Abs. I GG nominierten grundsätzlichen Freiheitsanspruch auch des Jugendlichen5 entspricht nur eine differenzierende Beurteilung der »Grundrechtsmündigkeit«, die auf schematisch angesetzte Altersschranken überhaupt verzichtet. Eine Erziehung, die dem Verfassungsgebot der Anleitung zur Autonomie gerecht werden will (s. oben Ziff. II.), wird praktizierte Grundrechtsmündigkeit zulassen und fördern, wann immer Anhaltspunkte für eine vernünftig motivierte Willensbildung des Jugendlichen schließt (auch eindringliche) Berating und eventuell Ermahnung keineswegs aus, wohl aber Korrekturen durch physischen oder psychischen Zwang.
»Erziehungs«-Maßnahmen und -Methoden, welche nicht geeignet sind, die Fähigkeiten des Kindes zu selbstverantwortlicher Entscheidung zu entwickeln und zu stärken, welche vielmehr bloße Dressurakte (Eingewohnung von Verhaltensmustern durch positive oder negative Sanktionen) zum Inhalte haben, verstoßen gegen das Prinzip der Anleitung zur Autonomie und sind verfassungswidrig. Das wäre etwa der Fall, wenn
a) Verstöße gegen geltende Vorschriften der Anstaltsordnung unspezifisch (d. h. ohne Bezug auf den Umgang mit Geld) durch Taschengeldentzug bestraft werden;
b) vor oder nach dem Essen stereotype Spruchformeln eingedrillt werden;
c) die Freizeitgestaltung durch Teilnahmepflichten für bestimmte Veranstaltungen reglementiert und sanktioniert wird;
d) etwa Abschreibeübungen als bloße Ordnungsstrafen und nicht primär um eines bestimmten Lehrerfolges willen auferlegt werden.
IV.
Elterlicher und staatlicher Erziehungsauftrag sind zu unterscheiden.
Man mag geteilter Meinung darüber sein, inwieweit das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder (Art. 6 Abs. II GG), das Selbstentfaltungsrecht des Kindes beeinflußt, inwieweit etwa Eltern berechtigt wären, dem widerstrebenden, sich anders entscheidenden Kinde bestimmte Erziehungsinhalte und bestimmte Erziehungsziele und bestimmte lebensgestaltende Entscheidungen aufzuzwingen. Dies betrifft Fragen des gesellschaftlichen Umgangs, des Lesestoffes und des Kinobesuches ebenso wie die ganz wichtigen Probleme, etwa die Berufs- oder Religionswahl. (Vergl. hierzu § 5 Gesetz über die religiöse Kindererziehung). Tritt jedoch an die Stelle fehlender oder unzulänglicher elterlicher Erziehung staatliche Erziehungshilfe nach den §§ 62-77 JWG ein, so ist die Rechtslage eindeutig: der Staat hat kein Recht, dem Kinde oder dem Jugendlichen eine an einem bestimmten weltanschaulichen Leitbild inhaltlich fixierte Erziehung aufzuzwingen. Es ist zum Beispiel nicht zulässig, auch nicht in besonderen, verschärften Situationen, sofern diese überhaupt erlaubt sind, dem Zögling jegliche Lektüre außer der Bibel oder erbaulichen Traktätchen vorzuenthalten. Auch den Religionswahl-Mündigen (12 bzw. 14 Jahre als Altersgrenze) darf überhaupt kein Gewissenszwang ausgeübt werden. Gottesdienstbesuch, Bibellektüre, das Singen geistlicher Lieder sind von dieser Alterstufe an nur auf völlig freiwilliger Basis statthaft. Dabei muß gewährleistet sein, daß den Desinteressierten deshalb weder direkt noch indirekt Nachteile entstehen. Dies folgt aus Art. 4 GG und aus Art. 54 Hess. Verfassung.
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V.
Das Recht auf Erziehung umfast den Anspruch auf eine den Begabungen und Neigungen des Jugendlichen entsprechende Berufsausbildung. Die hier zu treffenden Maßnahmen bedürfen ganz besonderer Sachkunde und Sorgfalt. Der Staat, der dem Jugendlichen durch die zwangsweise Heimunterbringung die persönliche Freiheit weitgehend entzieht und dadurch auch tief in seine Möglichkeiten zur beruflichen Entfaltung eingreift, muß die volle Verantwortung für die Wahrnehmung der beruflichen Entwicklungschancen des jungen Menschen übernehmen.
Für ein möglichst breit gefächertes Angebot an Ausbildungschancen ist Sorge zu tragen. Es genügt nicht, wenn dem Jugendlichen die Wahl zwischen einer Gärtner-, einer Tischler- und einer Schlosserlehre geboten wird. Neben einer Vielzahl handwerklicher Berufe muß für einen entsprechend begabten Jugendlichen etwa auch die Möglichkeit offenstehen, einen kaufmännischen Beruf zu erlernen. Die Berufsberatung muß eingehend, individuell und unter Anwendung moderner Testmethoden erfolgen. Unter allen Umständen muß versucht werden, den völligen inneren Konsens des Jugendlichen bei der Auswahl des Berufes herbeizuführen. Andernfalls sind schwere Erziehungsschäden zu befürchten. Ist der Jugendliche hinreichend einsichtsfähig, selbst eine verantwortliche Berufswahl zu treffen, so muß ihm die Ausübung dieses Grundrechtes (Art. 12 Abs. I GG) in voller Freiheit überlassen bleiben. Auch hier muß die Berufsberatung mit größter Sorgfalt stattfinden.
Eine möglichst gute und fortschrittliche Berufsausbildung der Fürsorgezöglinge, liegt nicht nur im individuellen Interesse der Jugendlichen, sondern auch im besonderen Interesse der Gesellschaft: Eine Fürsorgeerziehung verfehlt ihren gesetzlichen Auftrag, wenn sie junge Menschen entläßt, die beruflich schlecht oder wirtschaftlich chancenlos ausgebildet sind und nicht zuletzt auch dadurch auf die Bahn des Kriminellen getrieben werden. Eine Fürsorgeerziehung, die sich im praktischen Ergebnis in der Mehrzahl der Fälle als »Vorschule« für das Gefängnis erweist, d. h. deren Absolventen später überwiegend kriminell werden, ist sinnlos und ohne Daseinsberechtigung.
Zur beruflichen Ausbildung im weiteren Sinne, die auch der Entwicklung der selbstverantwortlichen Persönlichkeit dienen soll, gehört auch, daß der Jugendliche möglichst früh den verantwortlichen Umgang mit den Erträgen seiner Arbeit lernt. Sofern keine spezifischen Gegenindikationen vorliegen (Verschwendungssucht, Neigung zu Schuldenmachen usw.) ist dem Heranwachsenden Jugendlichen nach und nach die volle Verfügung über seinen Arbeitslohn einzuräumen (abzüglich eines Beitrages zu den Aufenthaltskosten). Es ist nicht zulässig und pädagogisch falsch, ihn mit einem minimalen Taschengeld (etwa 2,50 - 5,00 DM pro Woche) abzufinden. Auch hier ist vernünftige Beratung (über die sparsame Verwendung des Verdienten) im Einzelfall besser als ein starres Reglement.
Jugendliche, die keine abgeschlossene Berufsausbildung erreicht haben oder eine andere zu erhalten wünschen, dürfen in keinem Fall längere Zeit mit bloßer Routinearbeit [ 383 ] ohne Ausbildungswert beschäftigt werden.
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Derartige Arbeiten à la Tütenkleben sind schon für einen modernen Strafvollzug untragbar, erst recht aber in einem Heim mit Erziehungsaufgaben.
VI.
Einschränkungen der persönlichen Freiheit sind nur in dem durch den Erziehungszweck unabdingbar erforderlichen Ausmaß rechtmäßig. Nur bei konkreter Fluchtgefahr sind Beschränkungen der persönlichen Bewegungsfreiheit z. B. nächtliches Verschließen der Heime zulässig. Die Fürsorgeerziehung könnte ihren Erfolg durch nichts besser beweisen als durch die freiwillige, ungezwungene Bejahung des Heimaufenthaltes durch die Zöglinge.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der bei allen in die Freiheitssphäre des Jugendlichen eingreifenden Maßnahmen zu beachten ist, verbietet Regelungen, welche die Heimerziehung zu einer Art Strafvollzug werden lassen oder welche Zustände herbeiführen, die selbst für den Strafvollzug als verfassungswidrig anzusehen sind. Als unverhältnismäßiger Eingriff in die persönliche Freiheit Art. 2 Abs. I und II GG wäre, auch bei fluchtverdächtigen Zöglingen, eine nächtliche Zimmereinschließung anzusehen, die auch ein Aufsuchen der außerhalb gelegenen Toilette unmöglich macht.
Werden die Fürsorgezöglinge dadurch gezwungen, ihre Notdurft auf einer Kübeltoilette im gemeinschaftlichen Schlafzimmer zu verrichten, so liegt hierin überdies ein Verstoß gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde vor. Dies hat das OLG Hamm im Beschluss vom 23.6.1967 6 für einen ähnlichen Sachverhalt mit dankenswerter Klarheit herausgestellt.
Andere, gleichfalls die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. I GG) beschränkende Maßnahmen können nicht nur im Hinblick auf den erzieherischen Anstaltszweck: Anleitung zur Automie vgl. o. verfehlt und daher unzulässig sein, sondern auch bereits als unverhältnismäßige Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht [ darstellen ]. Zu denken wäre etwa an folgende Regelungen:
- Essenszwang: Zwang, die Tellerportionen aufzuessen, bei Vermeidung irgendwelcher Sanktionen;
- Matratzenentzug: Verbot an den eingeschlossenen Jugendlichen, sich tagsüber auf sein Bett zu legen, verbunden mit der Aktion des nächtlichen Matratzenentzuges;
- Die Uniformierung durch Kleidervorschriften oder
- durch Vorschriften über die Haartracht;
- kleinliche Handhabung der Rauchvorschriften;
- Reglementierung der arbeitsfreien Zeit anstelle der Schaffung attraktiver Anregungen und Chancen zur Ausübung von Hobbies innerhalb des Heimes, aber auch zur Pflege des gesellschaftlichen Außenweltkontaktes. Der Jugendliche muß auch Gelegenheiten finden können, Beziehungen zu Angehörigen des anderen Geschlechtes anzuknüpfen.
- Beeinträchtigungen der körperlichen Integrität durch körperliche Züchtigungen. Es sollte selbstverständlich sein, das weder Ohrfeigen noch gar Prügelstrafen als erlaubte Disziplinarmaßnahmen angesehen werden können.
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VII.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage der Einschränkbarkeit der persönlichen Bewegungsfreiheit (Art. 2. Abs. II 2 GG) aus anderen Gründen als dem der unmittelbaren Fluchtverhinderung. Die besondere Bedeutung dieses Rechtsgutes und die Gefährdungen, denen es unterliegt, haben zu der von Verfassungswegen zwingend vorgeschriebenen Einschaltung des Richters geführt: »Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.« (Art. 104 Abs. II 1 GG). Eine Freiheitsentziehung in diesem Sinne kann auch die »weitere Freiheitsentziehung« sein, die innerhalb eines die Freiheit bereits einschränkenden Sonderstatusverhältnisses angeordnet wird. Die richterliche Anordnung der Fürsorgeerziehung oder der Freiwilligen Erziehungshilfe berechtigt zwar die durchführende Jugendwohlfahrtsbehörde zur Aufenthaltsbestimmung für den Zögling und zur Durchsetzung dieses Rechtes durch Einweisung in eine »geschlossene Anstalt«. D. h. die Anstalt als gesamter Gebäude- und Geländekomplex oder als teilkomplex kann im Rahmen des Notwendigen, also stets gemäß dem Proportionalitätsprinzip zur Nachtzeit oder evtl. auch ständig verschlossen gehalten werden. Zu einem weitergehenden Freiheitsentzug ist die Behörde grundsätzlich nicht berechtigt. Eine länger als nur ganz vorübergehende Zimmereinschließung, etwa unter den Voraussetzungen des § 127 StOP, eines oder mehrerer Zöglinge würde aus der Erziehungsunterbringung einen de-facto-Freiheitsstrafen-Vollzug werden lassen; sie ist deshalb unzulässig.
Eine Zimmereinschließung (»Karzer«) als disziplinarische Arreststrafe ist ohne ausdrückliche vorherige richterliche Anordnung aufgrund eines entsprechenden rechtsförmlichen Verfahrens absolut unzulässig: Art. 104 Abs. II S. 1 GG 7. Da es sich bei der Arrestbestrafung auch nicht um einen Fall vorläufiger Festnahme handelt, ist auch eine vorläufige Freiheitsentziehung durch die Verwaltungsbehörde unzulässig. Art. 104 Abs. II S. 2 GG trifft auf diesen Fall nicht zu.
Im übrigen könnte auch der Richter eine derartige Strafe nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes aussprechen (Art. 104 Abs. I S. 1 GG). Eine Berufung auf Anstaltsgewohnheitsrecht oder eine Herleitung aus dem Zweck des Sonderstatus kommt gegenüber der eindeutigen Verfassungsregelung nicht in Betracht.
VIII.
Die Achtung vor der Menschenwürde des jungen Mitbürgers verbietet grundsätzlich jedes Eindringen der Staatsorgane in den Intimbereich des Zöglings. Hierunter fallen auch alle Versuche der »Bespitzelung« durch optische »Spione« in den Zimmertüren ebenso wie die durch Ausnutzung von Denunziation seitens der Mitzöglinge o. ä. Hierunter fällt auch die heimliche oder offen ausgeübte Kontrolle über ein- und ausgehende Post der Anstaltsbewohner. Art. 10 Abs. II S. 1 GG läßt Beschränkungen nur auf Grund eines Gesetzes zu. Als solche Gesetze kommen nur formelle Gesetze, nicht etwa auch Rechtsverordnungen und Gewohnheitsrecht in Betracht 8.
Insbesondere ist die Anstaltsbehörde auch nicht etwa befugt, als erziehungsberechtigter gesetzlicher Vertreter ein Elternrecht zur Postkontrolle wahrzunehmen, es sei denn, die Eltern hätten dieses Recht ausdrücklich auf die Anstaltsbehörde übertragen.
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[ 385 ] Das hier eine gesetzliche Vertretungsbefugnis der Behörde nicht angenommen werden darf, ergibt sich z. B. aus § 69 IV JWG. Analogien zu den für den Strafvollzug teilweise für zulässig gehaltenen Postüberwachungsmaßnahmen verbieten sich schon wegen der verschiedenen Zwecksetzung der beiden Arten von Anstaltsverhältnis. Außerdem begegnen auch die für den Strafvollzug in dieser Hinsicht vertretenen Auffassungen verfassungsrechtliche Bedenken. Eine Fürsorgeerziehung, die auf dem Prinzip des Mißtrauens statt auf dem Prinzip des Vertrauens aufbaut, kann nicht diejenigen sozialisierenden Wirkungen erzielen, um deretwillen der Gesetzgeber die Möglichkeiten staatlicher Erziehungshilfen eingeführt hat.
*Gutachten für Studenten, anlässlich von Verhandlungen mit dem hessischen Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen und dem hessischen Landeswohlfahrtsverband ( Vgl. 'DER SPIEGEL Nr. 47/1969', S. 116 ) [ tatsächlich gemeint ist aber anscheinend 'DER SPIEGEL Nr. 47/1969, 17.11.1969', »APO versorgt Schwererziehbare«, Seite 119, www.spiegel.de/spiegel/print/d-45439974.html ] [ Siehe aber auch Fußnote 6 auf Seite 21 des Berichts »Runder Tisch mit ehemaligen Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt« vom 19.01.2008 ( @[/color] www.schleswig-holstein.de/MSGFG/DE/KinderJugendFamilie/KinderJugendhilfe/AllgemeineInformationen/rundertisch1glueckst__blob=publicationFile.pdf ), wo es heist: 6 Erhard Denninger: Jugendfürsorge und Grundrechte, in: Kritische Justiz, 1969, S. 379 ff. und identisch in: AFETMitgliederrundbrief 1971, Nr. 1/2, S. 3 ff. ]
1 Vgl. etwa: Riedel, JWG-Kommentar, 4. Aufl. 1965, Anm. 7 zu § 1. [ d. h., möglicherweise gemeint ist, Rechtsgutachten, 1960 Riedel, Hermann: Jugendwohlfahrtsgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 1965 ] [ Siehe aber auch Leserkommentar #178 vom 28.02.2009 um 08:36 Uhr von »waelder« @ forum.spiegel.de/showthread.php?t=6330&page=18 : 1969 war ich Gründungsmitglied des Vereins "Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln" [ SSK Köln ]. [
] Als ein anderes wichtiges Buch aus der Staffelbergkampagne und den Frankfurter Lehrlingskollektiven entstand "Heimterror und Gegenwehr" (Fischer-Verlag Nr. 1234) mit einem Gutachten von Prof. Erhard Denninger zu Verfassungswidrigkeiten bei der Durchführung der Heimerziehung in der BRD. Für das Profil von »waelder« siehe @ forum.spiegel.de/member.php?u=78516 ]
2 Vgl. BVerfGE 4, 15 f.
3 Im Ergebnis wie hier: BVerfGE 24, 119 ff., bes. 144. Hierzu und zur Abgrenzung von Elterngrundrecht und Kindergrundrecht vgl.: K. W. Jans, Erziehungshilfen im Vorraum der Heimerziehung, heft 3 der Wissenschaftlichen Informationsschriften des Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages e. V., Hannover 1969, S. 9 ff. Dort weitere Nachweise.
4 Ebenso: Reuter, Kindergrundrechte und elterliche Gewalt, 1968, S. 82 ff.
5 BVerfGE 17, 313 f.
6 JZ 1969, 236 ff. mit zust. Anm. v. Würtemberger.
7 Vgl. auch Maunz-Durig, GG, Art. 104 Rdnr 23 und 34.
8 So zutr. V. Mangoldt-Klein, Bonner GG, 2. Aufl., Bd. I, S. 442. . |